Die alte Storchendame, Teil 1

Die alte Storchendame. Seit zehn Jahren brütet sie auf diesem Kirchengiebel: Deutschlands ältester Wildstorch

Mein erstes Foto der alten Störchin stammt vom Juli 1993.

Sie erholte sich auf dem schon reichlich bekleckerten Dach der alten Schule neben der Kirche, offenkundig gestresst von dem Gedränge im Nest gegenüber und der Bettelei ihrer ewig fordernden Jungen. Damals war sie 19 Jahre alt, aber da ich das nicht wusste, nur einer der vielen anonymen Störche auf jener Tour durch die Prignitz, durch Brandenburgs und gleichzeitig Deutschlands storchenreichster Landschaft. Seit 1993 habe ich die Störchin Jahr für Jahr fotografiert, zweimal mit vier Jungen im Nest auf der Kirche.

Aus der Anonymität kam sie dank Falk Schulz, der mir, ich glaube es war 1996, ihre Ringnummer nannte und dazu die in der Vogelwarte Hiddensee gespeicherten Daten.

Schulz arbeitet in der Prignitz als Storchenbetreuer und Beringer. Seine Kladden sind angefüllt mit Ringnummern, Neststandorten, Nachwuchszahlen. Ich kenne unter den Storchenleuten niemanden, der sich so ausdauernd wie er mit Ringstörchen und ihren Geschichten befasst hat.

Manche sind spannend wie ein Krimi, beispielsweise von einer Rückmeldung aus dem tiefen Kongo, von einer Missionarsstation mitten im Regenwald: Dort landete eines Tages ein erschöpfter, bis dahin nie gesehener Vogel mit langen roten Beinen. Nach drei Tagen, bestaunt von den Bewohnern, griff einer dann doch zu Pfeil und Bogen. Der fremde Vogel erwies sich als etwas mager, aber eben doch als essbar. Der Missionar schaffte es mit einiger Mühe, den Ring seinem neuen Besitzer für ein paar Minuten abzunehmen und die Zahlen nebst Adresse Vogelwarte Hiddensee abzuschreiben. Ein Prignitzer Jungstorch, von Schulz beringt, der sich offenbar verdriftet hatte und so über den endlosen Regenwald geraten war.

Die Storchendame von der Kirche fotografiere ich mit anhaltender Neugier und mit wachsendem Respekt; denn dieser Storch frisst sich im Winter nicht irgendwo an einer warmen Krippe (beispielsweise) in Baden-Württemberg durch, sondern fliegt Jahr für Jahr seine zweimal rund 10.000 Kilometer auf der Ostroute zwischen Brandenburg und dem Süden Afrikas. In diesem Jahr 2001, im 27. Lebensjahr also, füttert sie mit ihrem Partner am alten Nistplatz zwei Junge auf.

Nach meiner Kenntnis gibt es derzeit in Deutschland keinen älteren freifliegenden Storch. Aus der Literatur und den Daten der Vogelwarte Hiddensee sind als bisher älteste zwei 29jährige bekannt, einer davon wurde 1930 mit dem Helgoland-Ring Helg 205745 beringt und 1959 in Deutschland tot aufgefunden. Im Zoo und in Zuchtstationen können Störche durchaus ein weit höheres Alter erreichen, aber das sind keine Wildvögel, sondern nach Konrad Lorenz "verhausschweinte Störche".

Ich bin auf den April 2002 gespannt, vielleicht schafft es die alte Dame noch einmal.